Der Begriff Autopoiese (= Selbsterzeugung) wird aus den griechischen Wörtern autos (= selbst) und poiein (= machen) gebildet. Die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela beschrieben dieses Konzept erstmals, als sie untersuchten, wie sich lebendige (biologische) Systeme von nicht-lebendigen (technischen) Systemen unterscheiden.
Für das Verständnis der menschlichen Wirklichkeit werden demnach die folgenden drei Klassen autopoietischer Systeme unterschieden:
- Leben (biologische Systeme)
- Bewusstsein (psychische Systeme)
- Kommunikation (soziale Systeme)
Das Konzept der Autopoiese gewann zunächst im Rahmen der Hirnforschung in der Biologie und später auch in den Sozialwissenschaften und der Psychologie großen Einfluss. Hier wurde es vor allem in der systemischen Familientherapie und später auch in der systemischen Organisationsberatung praktisch angewandt. Seit den 1980er-Jahren hat das Konzept der Autopoiese auch großen Einfluss auf die Haltung im Systemischen Coaching.
Autopoietische Systeme organisieren ihre eigenen internen Strukturen (z. B. Organe) und produzieren auch selbst die Elemente (z. B. Zellen), aus denen die Strukturen gebildet werden. Sie sind demnach organisierte Systeme, welche sich selbst erschaffen. Im Sinne der Autopoiese agiert ein System (psychisch, biologisch oder sozial), wenn es innerhalb seiner Systemgrenzen und selbstbezogen operiert. Es ist somit operationell geschlossen.
Trotz dieser operationellen Geschlossenheit ist ein autopoietisches System nicht komplett unabhängig von seiner Umwelt. Es steuert die eigenen Zustände intern und entscheidet selbst, welche Bedeutung es externen Einflüssen zuweist. Es ist allerdings nicht unbegrenzt beeinflussbar, formbar oder belehrbar. Die Abgrenzung eines jeden Systems ist im Rahmen natürlicher Prozesse stets nur relativ, da Austauschprozesse von Materie und Energie, oder auch ein Informationsfluss (z. B. hören und lesen) stattfinden müssen, um überlebensfähig zu bleiben. Hierdurch kommt es zu einer Interaktion zwischen dem System mit dessen Umwelt, obwohl diese Systeme in sich und gegenüber dem Rest der Welt abgeschlossen funktionieren. Zu beachten ist allerdings, dass die Reaktion eines autopoietischen Systems auf dessen Umwelt stets selbstbestimmt und nicht kausal abläuft.
Niklas Luhmann, Entwickler der Theorie sozialer Systeme, beschreibt auch Familien, Organisationen und Gesellschaften sowie deren Strukturen als autopoietische soziale Systeme. Demnach erschufen sich auch soziale Systeme aus sich selbst heraus und filterten selektiv Informationen aus Kommunikation, um das System nach Bedarf anzupassen. Diese Form der Organisation eines autopoietischen Systems wird auch autopoietische Organisation genannt.
Systeme versuchen nach dem Prinzip der Homöostase stets einen Gleichgewichtszustand gegenüber sich verändernden Lebensbedingungen zu erhalten oder wiederherzustellen. Im Coaching wird daher versucht, diesen Vorgang zu unterstützen. Es ist allerdings wichtig zu verstehen, dass der Coach niemals bestimmen kann, was Coachees tun, erleben oder denken.
Dieses Konzept der Unmöglichkeit instruktiver Interaktion hat dazu geführt, dass sich das Ziel der systemischen Arbeit von Veränderungsbemühungen hin zum Verstehen entwickelt hat. Übertragen auf den Coaching-Prozess bedeutet Autopoiese, dass ein Lebewesen im Rahmen der eigenen Selbstgestaltung nur basierend auf der eigenen Struktur auf die äußere Umwelt (z. B. Coach mit Coaching-Methoden) reagiert. Das konkrete Angebot einer Coaching-Methode kann somit, bei einem gleichen Sachverhalt unterschiedlich angenommen oder bewertet werden, da jeder Coachee auf eine ganz bestimmte und individuelle Art reagieren kann, ohne dass dieses Verhalten vorherzusehen ist.
Vergleiche Literatur:
Simon, Fritz B. (2020): Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus, Carl-Auer
Zander Schreindorfer, Ute (2021): Praxishandbuch systemisches Gesundheitscoaching, Vandenhoeck&Ruprecht
Von Schlippe, Arist & Schweitzer, Jochen (2016): Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I, Vandenhoeck&Ruprecht